Neues Handbuch: bessere Begleitung in der Gesundheitsfürsorge
Die Berücksichtigung von Spiritualität ist ein international anerkanntes Menschenrecht. Die Bedeutung spiritueller Gesundheit wird als unverzichtbare Dimension im Total Health Concept der WHO-Definition von Palliative Care benannt. In der Bundesrepublik wurde dieses Grundrecht im Jahr 2005 in Art. 7 der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen in nationales Recht überführt: „Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, seiner Kultur und Weltanschauung entsprechend zu leben und seine Religion auszuüben.“
Wie aber sollen Mitarbeitende im Gesundheits- und Sozialwesen die kulturellen, weltanschaulichen und religiösen Bedürfnisse ihrer Klientinnen und Klienten in ihr professionelles Handeln mit einbeziehen, wenn sie dafür nicht sensibilisiert sind? Und wie können sie sensibilisiert werden, ohne sich dabei mit ihren eigenen spirituellen Bedürfnissen auseinanderzusetzen?
Ausgehend von diesen Fragen haben Diakonie und Caritas in Zusammenarbeit mit Fachverbänden, Kliniken, Pflegeeinrichtungen und Universitäten in zwei mehrjährigen bundesweiten Projekten Erfahrungen gesammelt und dabei praxisnahe Weiterbildungs-Module für Mitarbeitende im Gesundheits- und Sozialwesen entwickelt: Zunächst im Projekt Diakonie Care, dann in dessen Weiterentwicklung Spiritual Care & Existential Care interprofessionell.
Spiritualität wurde dabei von den beteiligten interdisziplinären Arbeitsgruppen als subjektiv erlebter Sinnhorizont verstanden, der sowohl innerhalb als auch außerhalb tradierter Religiosität verortet sein kann. Während Religiosität sich auf die verfassten Religionen bezieht, wird Spiritualität als persönliche sinnstiftende Grundeinstellung beschrieben, die auch religiös sein kann. Positive Effekte von Spiritualität sind schon lange bekannt und werden in prophylaktische und therapeutische Prozesse einbezogen. Menschen verarbeiten Krankheit, Leid oder Krisen besser, wenn sie in spirituellen Bezügen leben und eine sinnstiftende Grundeinstellung haben.
Mitarbeitende in Heil- und Pflegeberufen werden täglich mit Grenzerfahrungen und Sinnfragen konfrontiert. Oft ist es der kurze Satz eines Patienten oder einer Angehörigen, der ihre existentiellen Nöte erkennen lässt. Am Krankenbett oder in der Sprechstunde ist in der Regel kaum Zeit dafür, es bleiben nur ein oder zwei Sätze, um angemessen darauf zu reagieren. Aber diese wenigen Sätze können für die Betroffenen nachhaltig befreiend und hilfreich sein. Durch die in Diakonie und Caritas entwickelten Weiterbildungen werden Mitarbeitende in Heil- und Pflegeberufen befähigt, existentielle Kurzgespräche am Krankenbett zu führen und für sich und andere spirituelle Erfahrungen angesichts von Grenzerfahrungen zu erschließen. Sie werden sensibilisiert, existenzielle Nöte von pflegebedürftigen oder sterbenden Menschen und ihren Angehörigen wahrzunehmen. Zudem werden sie in ihrer Sprachfähigkeit, Selbstwahrnehmung und Authentizität gestärkt sowie in ihren spirituellen, systemischen und kommunikativen Kompetenzen.
Die Förderung von existenzieller Kommunikation und die Erschließung spiritueller Ressourcen hat in den beteiligten Einrichtungen einerseits die Qualität der Begleitung von kranken, pflegebedürftigen und sterbenden Menschen im Sinne der Pflege-Charta deutlich verbessert. Gleichzeitig aber wurden die Weiterbildungen von den Teilnehmenden für ihren Arbeitsalltag als förderlich und belastungsreduzierend bewertet. Die wissenschaftliche Begleitung der Projekte erwies, dass auch die Mitarbeitenden in ihrer persönlichen Gesundheit und Resilienz gestärkt worden sind.
Angesichts der gesetzlichen Vorgaben durch die Pflege-Charta einerseits und der Wirksamkeit von Diakonie Care sowie von Spiritual & Existential Care andererseits, sollte deren Implementierung im Gesundheits- und Sozialwesen eine Selbstverständlichkeit sein – ist es aber nicht. Die Gründe dafür liegen zum einen im steigenden ökonomischen Druck, der Träger im Gesundheitswesen zögern lässt, Mitarbeitende für die notwendigen Weiterbildungen freizustellen. Zum anderen sind es der zunehmende Fachkräftemangel und die überlastungsbedingten Stundenreduzierungen von Pflegekräften sowie ein erhöhter Krankenstand.
Dies ist ein verhängnisvoller, sich selbst verstärkender Kreislauf: Der vorhandene Druck verhindert Weiterbildungen, die sich bei Mitarbeitenden nachweislich positiv auf den Gesundheitszustand und die Verweildauer im Pflegeberuf auswirken und so den Druck mindern könnten.
Gute Erfahrungen gibt es hingegen mit der Integration von Inhalten von Diakonie Care in der Pflegeausbildung und in Fachhochschulstudiengänge der Sozialen Arbeit. Zudem berichten diakonische Träger, die Diakonie Care in ihre Organisationsentwicklung mit einbezogen haben, von einer spürbaren Verbesserung ihrer Unternehmenskultur – die sich ihrerseits wieder positiv auf Gesundheit und Wohlbefinden nicht nur von Klientinnen und Klienten, sondern auch von Mitarbeitenden auswirkt.
Das Handbuch Spiritual Care & Existential Care interprofessionell, an dem mehr als 60 Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichsten Professionen und weltanschaulicher oder religiöser Herkunft mitgearbeitet haben, ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer ganzheitlichen Orientierung im Gesundheits- und Sozialwesen im Sinne des umfassenden Gesundheitsbegriffes der WHO. Das Handbuch richtet sich an Mitarbeitende im Gesundheitswesen im Haupt- und Ehrenamt, an Träger von Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung, Kostenträger und Gesundheitspolitik mit dem Anliegen der Verbesserung der spirituellen Begleitung Schwerkranker und sterbender Menschen sowie deren An- und Zugehörigen. Es ist auch ein Open-Access-Buch und kann kostenfrei heruntergeladen werden.